Die Reise

Neues vom Literaturkreis unserer Schule

Kindheitstraum
Zeitstreckung


Wenn man aufgeregt ist, können sich Minuten wie Stunden anfühlen.


Mein Leben lang träume ich genau hiervon. Von diesem Augenblick und allem, was er
mit sich bringt. Ein Event, das ich schon als Kind jedes Jahr mit leuchtenden Augen im
Fernsehen verfolgt habe. Aber heute ist es anders. Heute sitze ich nicht mehr vor dem
Bildschirm, heute stehe ich mitten im Rampenlicht. Ein Traum, der so viele Nächte in
mir gelebt hat, wird nun Wirklichkeit.


Doch sie breitet sich schlagartig aus: die Panik. Mein Herz schlägt bis zum Hals und sie
schwebt wie eine schwarze Wolke über mir. Was mache ich jetzt? Monatelang habe ich
mich auf diesen Moment vorbereitet und jetzt habe ich alles vergessen. Ich versuche,
mich mit all meiner Kraft an meine Worte zu erinnern, aber es funktioniert beim besten
Willen nicht. In meinem Kopf herrscht gähnende Leere und es fühlt sich so an, als wäre
ich in meinem ganzen Leben noch nie so nervös gewesen wie jetzt. Wahrscheinlich war
ich das auch nicht.


Ich habe noch nie so stark an mir gezweifelt und war gleichzeitig so stolz auf mich. Der
ganze Augenblick ist wie eine Zwickmühle. Ich habe mich noch nie so sehr gefragt, ob
ich etwas wirklich verdient habe, und war gleichzeitig so glücklich über meine
Errungenschaft. Wie kann man nur so viele Gedanken auf einmal haben? Wo sind meine
Karten? Ich habe alles vergessen. Alles. Hier. Eigentlich wollte ich ja frei sprechen und – Meine Gedanken wiederholen sich, aber ich kann nichts dagegen unternehmen. Es ist.
als würden sie gegen mich ankämpfen, als wollten sie, dass ich scheitere.


Ich traue mich nicht hochzuschauen, obwohl jeder in diesem Raum für mich
applaudieren wird. Jeder in diesem Raum weiß, warum ich genau jetzt hier oben stehe.
Ich habe das Gefühl, als wäre ich die einzige Person, die es immer noch nicht begriffen

hat. Ich muss es tun und mich überwinden. Ich muss jeden Gedanken, der mich
aufhalten will, hinter mir lassen und es tun.
Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Ich zittere am ganzen Leib und wahrscheinlich hat
jeder in diesem Raum meine Nervosität längst gespürt. Man muss sie gar nicht spüren,
denn ich zittere am ganzen Leib. Meine Muskeln führen Krieg gegeneinander und
vermutlich wird keiner von ihnen gewinnen. Doch gleichzeitig breitet sich eine
unvorstellbare Wärme in mir aus, als der tosende Applaus losgeht. Wärme und Kälte
zugleich. Das Händeklatschen donnert durch den Saal und ich werde davon
überrumpelt. Niemand bereitet einen auf die Schönheit eines solchen Moments vor,
geschweige denn auf die Reaktion des eigenen Körpers.
Ich habe noch nie so gefroren, gleichzeitig platzt der Schweiß förmlich aus meiner
Schädeldecke hinaus. Ich schaue durch den Saal. Glänzende Lichter, blitzende Kameras,
Stühle, Tische, Mikrofone, Stars, einfache Leute – mir wird das alles zu viel. Hunderte,
nein, tausende Augenpaare sind genau auf mich gerichtet und erwarten von mir, dass ich
mich perfekt präsentiere. Aber ist sowas überhaupt möglich? Kann man überhaupt in so
einem Moment vollkommen sein?
Ich blicke flüchtig nach links. Da kommt er. Klein und Gold. Genau wie erwartet. Das
Einzige, was genau so läuft wie erwartet. Endlich kann ich ihn entgegennehmen. Meine
Fingerspitzen berühren vorsichtig das kalte Metall und ich fange an, noch stärker zu
zittern. Ich habe es geschafft. Schon seit ich ein kleines Kind war, träume ich davon,
einen Oscar zu gewinnen, und jetzt ist es endlich so weit.
Ich atme laut ins Mikrofon. Zu laut. Jetzt muss ich etwas sagen. Irgendetwas
wenigstens. Was, wenn ich keinen Ton rausbekomme? In mir dreht sich alles. Meine
Gedanken rasen, Erinnerungen blitzen auf. Nächte, in denen ich in meinem kleinen
Zimmer saß und in meinem Kopf Szenen abspielte, Dialoge übte, Emotionen
verarbeitete. Die Momente, in denen ich an mir zweifelte, in denen ich dachte, dass ich
es nie schaffen würde. Und die Menschen, die immer an mich geglaubt haben, auch
wenn ich es selbst nicht tat.